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05/1995 Vortrag: Gesund mit Diabetes
gehalten während der 9. „Bad Neuenahrer Schulungswoche für Diabetiker“, mit dem Thema: „Alltag und Urlaub mit Diabetes mellitus“;

Bad Neuenahr im Mai 1995


Sehr geehrte Damen und Herren,

Das Motto dieser Schulungswoche lautet:
„Alltag und Urlaub MIT Diabetes“ und nicht:
„Alltag und Urlaub TROTZ Diabetes“;

und somit lautet auch mein Thema:
„Gesund MIT Diabetes“ und nicht:
„Gesund TROTZ Diabetes“.

Nun mögen sie sich fragen: ist das nicht ein Widerspruch in sich? Wie kann ich Diabetes haben und gleichzeitig gesund sein?
Die Antwort auf diese Frage lautet: JA!
Ja, man kann als Diabetiker gesund sein, JA, WENN ...

Und über dieses WENN oder auch WAS KANN ICH TUN möchte ich heute hier reden!

Dieses WENN und WAS KANN ICH TUN lenkt die Aufmerksamkeit auf drei Bereiche, drei weitere Fragen:

1. Was ist Gesundheit?
2. Was kann man dafür tun? und
3. Was hat das alles mit Diabetes zu tun?

zu 1.: Was ist Gesundheit?

Es wird sehr viel darüber geredet und geschrieben, es werden repräsentative Umfragen darüber gemacht, was das Wichtigste im Leben ist. Die allgemeine Meinung darüber lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen:
„Gesundheit ist das höchste Gut“ und
„Alles ist nichts ohne Gesundheit“.
Dabei rangiert interessanterweise in der allgemeinen Volksmeinung die Gesundheit in der Wichtigkeit noch vor der Liebe!

Nun führt uns das aber noch nicht weiter in der Definition von Gesundheit und so schauen wir mal nach, bei der allerhöchsten Gesundheitsbehörde der Welt, der WHO, wie die schon 1946 Gesundheit definiert haben:
„Die Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.
Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist eines der Grundrechte jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, des politischen Bekenntnisses, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.
...
Für die höchste Entwicklung des Gesundheitszustandes ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Wohltaten des medizinischen, psychologischen und des damit zusammenhängenden Wissens allen Völkern nutzbar gemacht werden. ... “

Diese leider viel geschmähte politische Zielvorgabe lenkt die Aufmerksamkeit auf eine mehr ganzheitliche Sichtweise des Menschen und somit auch von Gesundheit und Krankheit.

In der modernen Wissenschaft: Medizin, Psychologie aber auch Physik und Chemie wird über Gesundheit viel geforscht. Dabei schält sich immer mehr heraus, dass es offensichtlich zwei verschiedene Auffassungen von Gesundheit gibt, die mechanische und die dynamische:

* Gesundheit ist das Freisein von Krankheit, Gebrechen und Symptomen;

hier wird der Körper losgelöst von Geist und Seele als Maschine betrachtet, die entweder funktioniert oder – wenn nicht – repariert werden muss.
Diese mechanistische Auffassung von Gesundheit ist noch – und da dürfen wir uns nichts vormachen – sehr weit verbreitet.

Es gibt aber auch die andere Auffassung:

* Gesundheit ist ein Prozess sich ständig entwickelnder Erfahrung; sie ist die lebendige Kontaktaufnahme des Menschen mit sich selbst und mit seiner Umwelt.

Hier wird der Mensch als ganzheitliches Wesen betrachtet mit körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Dimensionen, die ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen.

Gesundheit ist in diesem Verständnis kein eindimensionales Produkt einer gesunden Lebensweise, sondern sie spiegelt immer das Ergebnis einer Interaktion, einer Auseinandersetzung von Menschen mit sich selbst, den anderen und der Umwelt wieder. Faktoren der eigenen Entwicklung spielen hier ebenso eine Rolle, wie Faktoren des sozialen Umfeldes, z.B. Familie und Beziehungsmuster, aber auch allgemeine und besondere Umweltbedingungen: unsere Arbeitsbedingungen, die Arbeitszufriedenheit, soziale Anerkennung, Gesundheitsversorgung, die Qualität der Luft, des Wassers, die uns umgebenden Schadstoffe. Auch politische und gesellschaftliche Bedingungen gehören in diese Gesundheitsdefinition.

Gesundheit ist dabei kein eingefrorener, statischer Zustand, sondern die mehr oder weniger geglückte Auseinandersetzung mit dem Selbst, den Mitmenschen und sowohl der physikalisch/chemischen als auch der sozialen Umwelt.

Wichtige Bestimmungsstücke der so definierten Gesundheit sind:
Kreativität, Bewegung und Lebendigkeit.


Die zweite Frage: „Kann ich etwas für die Gesundheit tun und wenn Ja: Was?“
lenkt die Aufmerksamkeit auf einen großen Forschungsbereich innerhalb der Psychologie:
Welche Wirkungen haben Überzeugungen und Meinungen auf unser Tun? (die Attributionstheorie)

Ich möchte den momentanen Stand der wissenschaftlichen psychologischen Forschung kurz und etwas vereinfacht darstellen:

Wenn man der Frage nachgeht:

Was kann ein Mensch für seine Gesundheit tun?
„ „ „ „ mit einer akuten Krankheit „ „ „ „ ?
„ mit einer chronischen Krankheit, z.B. Diabetes „ ?

Dann stößt man immer wieder auf sehr viele Menschen, die zwar sagen „Gesundheit ist das höchste Gut“, die aber nichts dafür tun!
Man weiß mittlerweile im Wesentlichen, woran das liegt!

Vereinfacht ausgedrückt gibt es drei verschiedene Sorten Menschen:

Wer ist für Gesundheit verantwortlich?

Antwort des C-Typs: das Schicksal (chance)
Antwort des P-Typs: der Experte (powerfull other)
Antwort des I-Typs: ich (internal)


- die einen meinen, dass Gesundheit und Krankheit im Wesentlichen etwas mit Glück, Zufall, Schicksal, höheren Mächten u.ä. zu tun hat; ihnen wird das Kürzel „C“ zugeordnet;
- die zweite Sorte Menschen glaubt auch – wie die ersten – dass Gesundheit und Krankheit im Wesentlichen nicht selber beeinflussbar sind, im Gegensatz zu den C-Leuten vertrauen sie aber voll auf die Macht der Experten, der Fachleute, der „machtvollen anderen“ – englisch „powerfull others“: also Buchstabe „P“;
- die dritte Sorte Menschenglauben und sind der Überzeugung, dass sie im Wesentlichen neben angemessener Technologie selber verantwortlich sind für ihre Gesundheit, für ihr Wohlbefinden und damit auch für die Integration von Krankheit in das Leben. Diese sind die mit der „internen Gesundheitsüberzeugung“, also Buchstabe „I“.

Es gibt natürlich viele Mischformen und obendrein darf man das Ganze nicht zu statisch sehen, es gibt Bewegungen zwischen den Typen.

Jetzt also ein Versuch, die dritte Frage zu Beantworten:

Was hat das alles mit Diabetes zu tun? Oder, um an den Anfang zurückzukommen:
Wie kann man MIT Diabetes gesund sein?

Darauf verschiedene Antworten:

a) wenn man eine mechanische, statische Auffassung von Gesundheit hat, kann man mit akuten Krankheiten noch gut zurecht kommen, mit chronischen überhaupt nicht! Ja, ist doch die große Verbreitung von chronischen Krankheiten und die daraus resultierende relative Hilflosigkeit der orthodoxen Medizin die Ursache für die Entwicklung neuerer Gesundheitsmodelle gewesen.
b) Wenn man C-Typ ist, wird man eher dazu neigen, sich um nichts zu kümmern, den Diabetes zu ignorieren; Jubel-Trubel-Heiterkeit ist angesagt mit der hohen Wahrscheinlichkeit früher und schwerer Folgeerkrankungen
„wie viele BE?“ Antwort: kein Brot, nur Kuchen!
c) ist man P-Typ, wird man wahrscheinlich dazu neigen, mehr oder weniger widerwillig das zu tun, was der Arzt sagt. Da man nicht glaubt, selber etwas Wesentliches tun zu können, wird jede Schwierigkeit subjektiv übergroß. Gleichzeitig wird man ständig auf der Lauer liegen, den Arzt bei wirklichen oder vermeintlichen Widersprüchen, Unsicherheiten oder sogar Fehlern zu ertappen um danach sofort diesen Arzt als nicht mehr powerfull-mächtig zu identifizieren und somit das nicht tun zu müssen, was er sagt. Die Folgen können sie sich selber ausrechnen.
d) Interne Gesundheitsüberzeugung bei gleichzeitiger dynamischer Gesundheitsauffassung ist also der Schlüssel, der zu
Gesundheit MIT Diabetes führt!

Es schließt dies im umfassenden, ganzheitlichen Sinn den Körper, den Geist die Seele und den sozialen Bereich mit ein.

Ich möchte Ihnen dies an einigen Beispielen erläutern:
Noch einmal die Kurzdefinition: … Gesundheit ist ein Prozess sich ständig entwickelnder Erfahrung; sie ist die lebendige Kontaktaufnahme des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt … dazu gehört u.a.:

• die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und angemessen auszudrücken. Gerade Männer neigen oft dazu, auf diesem, für die Gesundheit sehr wichtigen Gebiet, sehr defizitär zu leben und man diskutiert mittlerweile ernsthaft, ob die dies nicht im Wesentlichen die Ursache für die kürzere Lebenserwartung der Männer ist;
• ausreichende Entspannung und Schlaf: die meisten Schlafstörungen sind selbstverursacht; Entspannungsverfahren bieten vielfältige Hilfe;
• Bewegung und körperliche Aktivitäten: es wird sehr viel über Sport und Freizeitsport gesprochen, die alltäglichen Bewegungen dabei aber oft unterbewertet: Treppensteigen, Gehen, Radfahren: Hund und 10 km Umkreis;
• Das Umgehen mit unseren Mitmenschen: Kontakte zu Nachbarn im Haus und auf der Straße;
• Die Fähigkeit, angemessen mit Konflikten umzugehen: Sie kennen alle den schönen Spruch: „Herr, gib mir die Kraft, die Probleme zu lösen, die ich lösen kann; die Geduld, die auf die lange Bank zu schieben, die ich im Moment nicht lösen kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“;
• Die Einstellung zum Leben und zum Sinn des Lebens, ja sogar auch das angstfreie und vorbereitete Denken an den eigenen Tod gehört zu einer gesunden Lebensführung.

Ich habe einen kleinen Fragebogen (aus Frauke Teegen: Ganzheitliche Gesundheit) fotokopiert und hinten im Flur auf den runden Tisch ausgelegt, der Ihnen helfen kann, eigene Stärken und schwächen, Talente und Defizite im Gesundheitsverhalten herauszufinden, um dadurch Recourcen zu aktivieren und mit möglichst geringem Einsatz möglichst viel Gesundheit für sich selber schaffen zu können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.